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Warum ich (und nicht nur ich) jetzt in die Politik gehen sollten

9. Januar 2022

Düstere Lage

Deutschland Anfang 2022: Die AfD hat in allen Umfragen stark zugelegt. Immer mehr Menschen finden „die Alternative“ zu unserem jetzigen System attraktiv. Auch in anderen EU-Ländern, ja auf der ganzen Welt, sind Nationalisten auf dem Vormarsch. Statt nach kooperativen Lösungen zu suchen, gilt das Freund-Feind-Schema wieder als Kernelement von Politik, auch in Parlamenten mit Verhältniswahlrecht. Besonders bedroht von dieser Entwicklung ist die Europäische Union, dieses zarte Pflänzchen.




Wer sich in der europäischen Geschichte auskennt, der kennt den ewigen Unfriedenszustand dieses Kontinents vor 1945. Die EU hat das verändert und hat dazu beigetragen, dass die Nationalismen seit nun knapp 80 Jahren erfolgreich eingedämmt werden. Deshalb hat die EU auch völlig zurecht 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Aber rechtspopulistische Parteien wollen diese Staatengemeinschaft zerstören. Und zwar von innen heraus, indem sie das Europaparlament dafür nutzen. Das ist nicht nur eine Dystopie, sondern eine reale Gefahr. Die nächste Europawahl wird von großer Bedeutung sein. Es gilt zu verhindern, dass die AfD zu einer starken, wenn nicht zur stärksten Kraft wird.


Vita Activa und Vita Contemplativa

Und was heißt das für mein Leben? Ich trage mich mit dem Gedanken, in eine Partei einzutreten. Und der aktiven Parteipolitik einen größeren Zeitanteil in meinem Leben einzuräumen. In Krisenzeiten ist „Unparteilichkeit“ zwar bequem, aber möglicherweise falsch. Ich bin eigentlich schon zeitlich gut ausgelastet als außerplanmäßiger Professor an der Universität Tübingen und Leiter eines Think-Tanks für Generationengerechtigkeit in Stuttgart, sowie als Vater von zwei Kindern und als ehrenamtlicher Wanderleiter beim Deutschen Alpenverein. Aber ein bisschen was würde schon noch gehen. Ich habe die Möglichkeit, nun da die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, mich eine Zeitlang um die Belange des Gemeinwesens zu kümmern. Nicht wie die ausgelosten Mitglieder eines Bürgerrats (bei Lotterien habe ich sowieso nie Glück), sondern in den etablierten politischen Strukturen, die ja nicht per se schlecht sind. Ich will kein Berufspolitiker werden, aber auf einige Jahre begrenzt einen Großteil meiner Arbeitszeit der Politik widmen, ja das würde schon gehen.

Als außerordentlicher Professor bin ja bisher in erster Linie Wissenschaftler. Meine Pflichten sind – in dieser Reihenfolge – Forschung und Lehre, wobei ich mehr Zeit zur Forschung habe als ein ordentlicher Professor (die Unterscheidung zwischen „ordentlich“ und „außerordentlich“ hat nichts mit „unordentlich“ oder so zu tun. Sondern sie bedeutet, dass ich keinen Lehrstuhl innehabe und nicht auf der Gehaltsliste einer Uni stehe, aber auch viel weniger Lehrpflichten habe). Zwar würde ich bei nach einem Eintritt in eine Partei wohl weniger forschen können, aber dafür würde ich vielleicht neue interessante Erfahrungen machen. 

In der politischen Ideengeschichte gibt es die hilfreiche Gegenüberstellung zwischen vita activa (lat. für „tätiges Leben“; griech. bíos praktikós) und vita contemplativa (griechisch bíos theōrētikós), das „betrachtende Leben“. Wissenschaftler, besonders Philosophen, führen meist letzteres, d.h. sie wollen Forschen und Erkennen, aber nicht Eingreifen. Marx hat das in seiner 11. Feuerbach-These auf den Punkt gebracht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“


Demokratie - die Staatsform des Mitmachens

Die Demokratie braucht Engagement. Sie ist die Staatsform des Mitmachens. Ohne einen ausreichend großen Prozentsatz von Menschen, die einen Teil ihrer Zeit für die aktive Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens hergeben, geht sie zu Grunde. Die Autokratie, die Diktatur, braucht keine Mitmacher und Mitmacherinnen, die Demokratie schon. Deswegen sind nicht nur die erklärten Feinde der Demokratie eine Gefahr für diese Staatsform, sondern auch die Gleichgültigen und die Zynischen. Man muss nicht bis zu Politeia 473 c-d zurückgehen, um zu verstehen, dass es manchmal schon richtig sein kann, in die Politik zu gehen, selbst wenn man gar keine Chance auf ein Mandat in einem Parlament hat. Es kann auch schon ein Erfolg sein, die Schlimmsten zu verhindern.

Wir alle wollen eine funktionierende Demokratie und anständige Politiker. Aber gleichzeitig denken wir, dass Politik ein schmutziges Geschäft ist und man die Finger davon lassen sollte. Das ist offensichtlich ein gedanklicher Widerspruch. Er kann schlimmstenfalls dazu führen, dass wirklich alle anständigen Menschen die Finger von der Politik lassen – wodurch Politik nur noch von unanständigen Menschen betrieben wird. Eine self-fullfilling prophecy. Colin Hays Buch "Why We Hate Politics" von 2007 kommt mir in den Sinn. Natürlich ist der Titel eine Übertreibung, aber es kann in der Tat zu einem Teufelskreis kommen, wenn politisches Engagement ein immer schlechteres Image bekommt.

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