Soll ich wirklich?
12. Januar 2022
Mir sind Zweifel gekommen, ob es eine gute Entscheidung für mich wäre, in die Politik zu gehen. Wegen der sozialen Medien ist politisches Engagement heute nicht mit politischem Engagement vor 30 Jahren zu vergleichen. Soziale Medien machen heute sichtbar, was damals privat war. Auch früher schon waren Menschen sauer auf Abgeordnete, wenn diese ungeliebte Gesetze auf den Weg brachten. Aber damals schimpften die Menschen vor dem Fernseher oder vielleicht noch beim Stammtisch. Heute findet dieser Unmut sofort seinen Weg in die Öffentlichkeit der Sozialen Medien. Klick, klick, klick – schon ist der Shitstorm da, der leider manchmal nicht im Internet bleibt. Das ganze kann sich heute in einer Weise aufschaukeln, die früher undenkbar war. Man hört, dass die Hälfte aller Politiker:innen schon mal bedroht oder beschimpft wurde. Das sind ja tolle Aussichten!
Im Würgegriff der Interessensgruppen
Zudem steckt unser Land doch längst im Würgegriff der Interessensgruppen – und daran kann der oder die einzelne Politiker:in wenig ändern. Verbandsfunktionäre und Lobbyist:innen werden dafür bezahlt, dass sie möglichst viel für ihre Auftraggeber herausholen. Zwei Beispiele gehen mir durch den Kopf:
1) Nach dem Beschluss zum Atomausstieg in Deutschland 2011 wurde nach langem Ringen vereinbart, dass die Atomkonzerne ca. 24 Milliarden für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls in einen Fonds zahlen müssen. Viel zu viel, jammerten die Industrievertreter:innen damals, obwohl es nur ein kleiner Teil der Gesamtkosten sind, für die die Allgemeinheit in den nächsten Jahrzehnten aufkommen muss.
2) Das Rentenpaket 2018 schrieb eine Haltelinie fest: Das Nettorentenniveau soll nicht unter 48 Prozent sinken? Das ist angesichts der demografischen Entwicklung das teuerste Sozialgesetz des Jahrhunderts und wird Beitrags- und Steuerzahler sowie die Unternehmen Milliarden und Abermilliarden kosten. Aber die Altenvertreter:innen riefen sofort, dass es zu wenig ist, und dass ein Nettorentenniveau von 49, 50, 51 Prozent unbedingt nötig wäre.
Auf Lob für gute geleistete Arbeit, zumal durch die Medien, braucht man in keinem Fall zu hoffen, wenn man heutzutage in die Politik geht. Man kann nur hoffen, dass die Kritik, selbst am bestmöglichen Kompromiss, sich in zivilisierten Grenzen hält. Im Englischen heißen Interessengruppen auch Pressure Groups, und wer nicht gerne im Schraubstock „gepresst“ werden will, der sollte sich von der Politik fernhalten.
Trotzdem! Aber auf einem Mittelweg!
Also, diese Einwände und Zweifel sind sicher berechtigt. Aber ich kann ja vielleicht für mich selbst einen Kompromiss finden, der verhindert, dass ich irgendwann seelisch ver-EIS-e oder mich selbst nicht mehr mag oder mir die Familie vorwirft, dass ich sie vernachlässige:
- Statt ein allgemeines politisches Engagement, das gleichermaßen auf Bund, Land, Kommune und Europa gerichtet ist, will ich mich auf die europäische Ebene konzentrieren. Denn hier drohen die Radikalen alles zu zerstören, was in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde. Die EU steht für wirtschaftliche Prosperität, eine gemeinsame Währung, Reisefreiheit, kulturelle Vielfalt, Bildungschancen, und – am wichtigsten – für inneren Frieden zwischen lange verfeindeten Nationen. Die EU als politisches Gebilde ist aber weitaus fragiler als das Land Baden-Württemberg oder die Bundesrepublik Deutschland. Wenn es mir gelingt, den Rechtspopulisten (also bezogen auf Deutschland, der „AfD“) durch mein Engagement innerhalb einer demokratischen Partei ein paar Stimmen abzuluchsen, dann hat es sich gelohnt.
- Statt bis ans Lebensende Politiker zu werden, will ich mich auf wenige Jahre konzentrieren, in denen ich konzentriert meine politischen Ziele umzusetzen versuchen werde. Wenn das innerhalb von diesen wenigen Jahren nicht klappt, dann werde ich halt in der Politik nicht erfolgreich gewesen sein. Aber es gibt ja noch andere Bereiche in meinem Leben.
- Und vielleicht kann ich wirklich die Kluft zwischen Politik und den Bürger:innen ein wenig verringern, in dem ich mich z.B. dafür einsetze, dass auch Abgeordnete in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.